Das einseitige Shakespeare-Bild der Romantik, das wie ein Fieber im deutschsprachigen Raum um sich griff, wurde fast immer akzeptiert. Hier und da regte sich jedoch Widerspruch, der aber in der Regel von den Zeitgenossen ignoriert oder verworfen wurde. Einer, den man allerdings keineswegs als ungebildeten Schreiberling abtun konnte, war Johann Wolfgang von Goethe, der sich 1815 mit Shakespeare und kein Ende vehement gegen die Romantisierung Shakespeares aussprach. In weitaus größeren Umfang geschah dies rund zwei Jahrzehnte später durch Christian Dietrich Grabbe. Er war schon in frühen Jahren von der allgemeinen Shakespearebegeisterung erfaßt worden. Einige Zeitgenossen verglichen ihn sogar optisch mit dem Barden, was sich Grabbe gerne gefallen ließ.
1827 veröffentlichte Grabbe seine ersten Dramen. In dem Erstlingswerk Herzog Theodor von Gothland sah unter anderem Tieck deutliche Parallelen zu Titus Andronicus, obwohl der Autor selbst dies leugnete. Doch auch in späteren Werken nahm Grabbe auf Shakespeare Bezug. Gemeinsam mit den Theaterstücken erschien die Abhandlung über die Shakespeareo-Manie. In einem Brief vom 25. Juni 1827 an Georg Ferdinand Kettembeil erwähnte Grabbe erstmals das Vorhaben zu diesem Aufsatz. Bereits ein Monat später schickte er das Manuskript an seinen Verleger.
Grabbe wollte die Begeisterung für Shakespeare untersuchen. Zu diesem Zweck versuchte er drei, sich selbst gestellte, Fragen zu beantworten.
1. Wie entstand diese Faszination für Shakespeare?
Seit Louis XIV. herrschte auf deutschen Bühnen das französische Theaterstück. Als Gegenstück zu den Franzosen besann man sich auf andere europäische Literaten, darunter war Shakespeare, doch die Romantik hat einen Shakespeare entdeckt, der völlig verfälscht war.
2. Verdient Shakespeare die Bewunderung überhaupt?
Viele andere Dramatiker vor und während Shakespeare bedienten sich der gleichen Mitteln. Er selbst begründete weder eine neue Schule noch eine neue Art des Schauspiels. Damit sprach Grabbe ein großes Wort gelassen aus. Was ist mit den Werken von Marlowe, Fletcher, Johnson und noch einer Reihe anderer elisabethanischer Autoren, die fürs Theater schrieben? Hier wird sicher ein Punkt angesprochen, der dazu beiträgt Grabbes Aufsatz als eine Shakespearekritik zu sehen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzigartig ist.
Im Folgenden analysierte Grabbe Shakespeare historische Stücke, und kam zu dem Schluß, daß sie sowohl innerliche, wie äußerliche (dabei vor allem die Anachronismen) Mängel aufweisen. Nach der Aufzählung einiger weiterer Fehler von Shakespeare, wie die übertriebene Freiheit im Umgang mit Zeit und Ort oder die sprachlichen Mängeln kam Grabbe zu dem Ergebnis, daß die herrschende Shakespeare-Verehrung in keinem Ma®? zu den tatsächlichen Errungenschaften des Dichters standen. In der Tragúdie seien ihm Racine, Corneille und Voltaire, in der Komúdie Moliére vorzuziehen.
3. Was hat sie für Auswirkungen auf das deutsche Theater?
Eine übermäßige Verehrung Shakespeares sei für die deutschen Dichter nur hemmend und keineswegs förderlich. Man solle ihn studieren und benutzen, jedoch keineswegs nachahmen. Das deutsche Theater müsse seine Eigenständigkeit finden und wäre dann zu Leistungen imstande, die Shakespeare durchaus übertreffen würden.
Nach Grabbe waren die Stützen des romantischen Shakespeare-Bildes einerseits die Übersetzungen durch Schlegel und Tieck, andererseits August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst, die sich ja ganz vehement für Shakespeare aussprachen. Genau diese beiden Koryphäen wollte Grabbe mit seiner Schrift treffen. Im August 1827 gab Grabbe gegenüber seinem Verleger Kettembeil zu: Ich gestehe, er [der Aufsatz] ist vorzüglich mitberechnet, dem Tieck i. e. seiner albernen Kritik den Todesstoß zu geben. Ich mußte, (wie ich höchstens einmal mündlich näher entwickeln könnte) ihn in Worten schonen, aber indem ich den Götzen angreife, zu dessen Papst er sich aus Mangel eigener Kraft machen will [...], so zertrümmere ich auch ihn. (Christian Dietrich Grabbe)
Man kann also durchaus sagen, daß Grabbes Zweifel an Shakespeare auch Zweifel an Tieck waren. Die öffentlich zur Schau getragene Verehrung für Tieck war demnach lediglich der Versuch sich nicht gänzlich von seinen literarischen Zeitgenossen abzugrenzen. Diffiziler verhielt es sich mit Grabbes Angriff auf August Schlegel. Die Bevorzugung französischer Autoren war eindeutig gegen ihn gerichtet. Gleichfalls waren seine Ausführungen zu Shakespeares Dramenaufbau als Antithese zu Schlegel zu verstehen. DennGrabbe ging eindeutig von einer klassizistischen Dramenpoetik aus. Dieser betont konservative Standpunkt stand allerdings im krassen Widerspruch zu seinen eigenen Werken. über die Shakespereo-Manie war eigentlich kein wirklicher Angriff auf Shakespeare sondern vielmehr eine Attacke auf die Verherrlichung seiner Werke und seiner Person.
Grabbe versuchte sich unter anderem auch als Übersetzer. Wie könnte es anders sein, wählte er den Hamlet. Den Entschluß dazu faßte er im Dezember 1834. Ende Jänner existierten bereits die Übersetzungen der ersten Szene und des Anfangs der zweiten. Am 27. Februar 1835 erwähnte Grabbe die Arbeit das letzte Mal. Wie weit er tatsächlich gekommen ist, kann nicht mehr festgestellt werden, denn die Übersetzung ist verschollen, ohne daß sie jemals zuvor gedruckt worden war.
Grabbes Ansichten zu Shakespeare und seinem Oeuvre waren ambivalent, allerdings fast durchwegs antiromantisch. Johann Peter Leyser berichtete, Grabbe hätte einmal Shakespeare Ñals den verfluchten, göttlichen, kleinen englischen Pferdedieb, der uns dummen Kerlen schon alles vorweg gedichtet hat (Gerhard F. Hering) bezeichnet. Vielleicht ist dieser Satz Grabbe nie über die Lippen gekommen, aber besser könnte man seine Einstellung zu Shakespeare wohl wirklich nicht charakterisieren.
Christian Dietrich Grabbe wurde am 11.12.1801 in Detmold geboren und starb dort am 12.09.1836. Als Sohn eines Zuchthausaufsehers wurde Grabbe stark geprägt von den Eindrücken der Gefängnisatmosphäre. Von 1820 bis 1822 studierte Grabbe Jura in Leipzig und Berlin. Sein juristisches Examen bestand er 1824, wurde Advokat und 1828 Militärgerichtsbeamter in Detmold. 1834 verließ er den Beamtendienst und ging nach Frankfurt, bzw. Düsseldorf ans Theater.
Grabbe zerstörte sich und sein Leben ähnlich wie Jarry durch Alkoholismus. Seine historischen Dramen führten zu einem neuen Realismus. Er führte große Massen von Schauspieler und Schlachtenszenen auf die Bühne.
1896 setzte sich Jarry vergeblich für eine Inszenierung von Grabbes sarkastischer Literaturkomödie Scherz, Satire und tiefere Bedeutung am Théâtre de l'Oeuvre ein. In einem Brief an Lugné-Poe schrieb Jarry über Grabbe:
Si ça vous intéresse, je vous donnerai des renseignments sur des pièces allemandes un peu anciennes, jamais traduites et quelques-unes d'un comique très voisin d'Ubu roi, dont une par un auteur ivrogne célèbre en Allemagne.
In seinem Théâtre des Pantins hat Jarry das Stück 1898 mit einer Bühnenmusik von Claude Terasse aufgeführt und 1902 hat er bei einer Lesung in Brüssel Auszüge aus seiner übersetzung vorgetragen. Die übersetzung erschien am 1.1.1900 in der Nr. 158 der Zeitschrift La Revue blanche unter dem Titel Les Silèlenes, eine Buchausgabe, 1927. Die Stelle, auf die sich Jarry bezieht, siehe Grabbe, Werke, Band I, Emsdetten 1960, S.263.
Werke:
Herzog Theodor von Gothland, 1827
Marius und Sulla, 1827
Scherz, Satire und tiefere Bedeutung, 1827
Kaiser Friedrich Barbarossa, 1829
Kaiser Heinrich der Sechste, 1830
Napoleon oder Die 100 Tage, 1831
Hannibal, 1835
Die Hermannsschlacht, 1838
Lebensdaten Werk:
*11. Dezember 1801 Detmold (Hauptstadt des Duodezfürstentums Lippe)
+12. September 1836 Detmold (Auszehrung)
Begraben: Detmold, Friedhof am Weinberg
Sohn eines "Zuchtmeisters" (später auch Leihbankverwalters); in der Dienstwohnung im Detmolder Zuchthaus geboren und aufgewachsen. Begehrt auf gegen spießige Enge, scheitert als Schauspieler, verfällt dem Alkohol; zerrüttete Ehe.
1833 Heirat mit Louise Christiane Clostermeier (*1791)
Nach Büchner der wichtigste Anreger des realistischen Dramas in Deutschland; löst strengen Bau des klassischen Dramas auf in eher lockere Folge von Episoden; bringt als erster die Masse auf die Bühne. Seine Stücke sind technisch zu seiner Zeit nicht spielbar; nur eins wird zu seinen Lebzeiten aufgeführt. Geschichtsphilosophischer Pessimismus: individualistisches Aufbegehren des Helden scheitert an Sinn- und Ausweglosigkeit.
"Ich will hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen Dichter war und von allen unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige genannt werden darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat. [...] Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zu Tage gefördert."
(Heinrich Heine)
Wichtige Lebensdaten:
1807 Bürgerschule in Detmold
1812 Detmolder Gymnasium
1819 G. erhält das Abgangszeugnis nicht (aufgrund früher alkoholischer Exzesse)
1820 Abgangszeugnis des Detmolder Gymnasiums
1820-22 Jura-Studium in Leipzig
1822 Fortsetzung des Studiums in Berlin; Bekanntschaft mit Heine
1823 Theaterpläne; Leipzig, Dresden, Braunschweig, Hannover: erfolglose Bemühungen um ein Engagement als Schauspieler; Rückkehr nach Detmold; alkoholische Exzesse
1824 juristisches Examen; Bewilligung zur Ausübung einer Advokatur; vergebliche Bewerbung um die Stelle eines Amtsschreibers in Oerlinghausen; geschichtliche Studien
1826 vergebliche Bewerbung um die Stelle eines Amtsauditors in Horn; unentgeltliche Tätigkeit als Gehilfe eines Auditeurs (Militär-Gerichtsbeamter); später staatl. Gratifikation
1827 Theaterkritiker; literarische Pläne
1828 G. erhält die Stelle des verstorbenen Auditeurs; sieht materielle Existenz als gesichert
1829 Werbung um Louise Christiane Clostermeier wird abgewiesen
1831 Verschlechterung des Gesundheitszustands, körperlicher Verfall "infolge früheren wüsten Lebens" ("Nervenschläge...mit schauderhafter Kraft"); Verlobung mit Henriette Meyer, die aber mit G. bricht, als er sich wieder Louise Christiane Clostermeier annähert; Bekanntschaft mit Karl Immermann
1834 Aufgabe seines Amtes; ohne Abschied von seiner Frau nach Frankfurt/M.; im Winter nach Düsseldorf (Unterstützung Immermanns)
1835 Todesahnungen
1836 völlige körperliche und seelische Zerrüttung; finanziell am Ende; Bruch mit Immermann; mit geliehenem Geld nach Detmold; seine Frau reicht Scheidungsklage ein.
Auszug mit freundlicher Genehmigung - Detmold Marketing GmbH / KulturTeam
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